- Friedensnobelpreis 1986: Élie Wiesel
- Friedensnobelpreis 1986: Élie WieselDer jüdische Schriftsteller hat sich zeitlebens für die Rechte unterdrückter Menschen eingesetzt und in seinen Werkendie Erinnerung an den größten Völkermord der Weltgeschichte wach gehalten.Élie (Eliezer) Wiesel, * Sighet (heute Sighetu Marmaţiei, Rumänien) 30.9.1928; 1944 Deportation in das KZ Auschwitz, 1945 Befreiung aus dem KZ Buchenwald, ab 1951 Journalist bei französischen und israelischen Zeitungen, 1956 Auswanderung in die USA, 1980 Begründer und Vorsitzender des United States Holocaust Memorial Council, 1987 Mitbegründer der Élie Wiesel Foundation for Humanity.Würdigung der preisgekrönten LeistungFür die teilweise oder vollständige Ausrottung von Völkern beziehungsweise rassischen oder religiösen Gruppen, die in historischer Zeit immer wieder vorkam, wurde der Begriff Genozid (Völkermord) geprägt. Darunter versteht man, so eine gängige Definition, »Handlungen gegen die Mitglieder einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe, die in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. ..«. Als unmenschlichstes und schrecklichstes Beispiel eines Genozids gilt der an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten. In Israel wird er als Holocaust oder als Shoah beziehungsweise Hurban bezeichnet.Die Ermordung von etwa sechs Millionen Juden sowie einer nicht genau bekannten Anzahl von Angehörigen anderer Minderheiten im Rahmen der so genannten »Endlösung« unterscheidet sich nicht nur in Dimensionen von anderen Völkermorden, sondern vor allem im planvollen Vorgehen der Mörder, die Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka oder Majdanek zu riesigen Tötungsfabriken ausbauten. Details dieser beispiellosen Vernichtungsmaschinerie wurden weltweit nach der militärischen Niederlage Deutschlands bekannt. Bilder gingen um die Welt, die zu Skeletten abgemagerte Menschen und zu Bergen aufgetürmte Leichen zeigten. Über den grauenvollen Alltag in den Lagern erfuhr man jedoch erst später von Häftlingen, die den Holocaust überlebt hatten. Zu diesen Menschen gehört Élie Wiesel, der in seinen mehr als 30 Büchern die Erinnerung an die Verfolgung und das Leiden der Juden unter der nationalsozialistischen Herrschaft wach gehalten hat.Und die Welt hat geschwiegenAls »Literatur des Gedächtnisses« bezeichnet der im heutigen Rumänien geborene Schriftsteller seine Werke, und offenbar hat das Jahr, das der junge Mann in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald verbringen musste, in seinem Gedächtnis tiefe Spuren hinterlassen. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen im März 1944 wurden sämtliche jüdischen Einwohner des damals ungarischen Städtchens Sighet in die Vernichtungslager deportiert, darunter auch die Kaufmannsfamilie Wiesel mit ihren vier Kindern. In Auschwitz, wo weit über eine Million Menschen vergast wurden, kamen Wiesels Mutter und seine jüngste Schwester um; der Vater starb kurz vor der Befreiung im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Nur Wiesel und seine beiden älteren Schwestern überlebten. Élie Wiesel wurde nach dem Krieg nach Frankreich gebracht und besuchte dort die Schule. Später studierte er an der Sorbonne in Paris Philosophie und Literatur. Einige Jahre war er als Journalist tätig. Die meisten seiner Bücher hat er in französischer Sprache verfasst.Das erste Buch, in dem Wiesel seine Erlebnisse in Auschwitz schildert, ist allerdings noch in Jiddisch geschrieben und trägt den Titel »Un Di Velt Hot Geshvign« (jiddisch; Und die Welt hat geschwiegen). Der französische Schriftsteller François Mauriac (Literaturnobelpreis 1952) überredete Wiesel zu einer verkürzten französischen Ausgabe, die 1958 unter dem Titel »Die Nacht« erschien und in den drei folgenden Jahren mit »Das Morgengrauen« (1960) und »Der Tag« (1961) zur Trilogie erweitert wurde. Seither ist beinahe jedes Jahr ein neues Werk erschienen, wie die Romane »Der fünfte Sohn« und »Der Vergessene« oder die Autobiografien »Alle Flüsse fließen ins Meer« und »And the Sea is Never Full« (englisch; Und das Meer wird niemals voll). Hinzu kommen zahlreiche Erzählungen, Dramen und Essays, in denen Wiesel sich hauptsächlich mit dem Leben jüdischer Menschen, aber auch mit allgemeinen philosophischen und psychologischen Fragen beschäftigt. Etwa in dem Band »Der Bettler von Jerusalem«, wo die Frage aufgeworfen wird, warum Menschen eigentlich töten — eine Frage, die den Schriftsteller bis heute bewegt und ihn zu einer »Anatomie des Hasses« anregte.Manchmal muss man sich einfach einmischenDas umfangreiche schriftstellerische Werk und seine persönlichen Erfahrungen mit der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten haben Élie Wiesel zu einem anerkannten Experten für den Holocaust werden lassen. Ende der 1970er-Jahre wurde er vom damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter zum Vorsitzenden einer Kommission ernannt, die sich die Aufarbeitung des Holocaust zur Aufgabe gesetzt hat. In einer solchen Position muss man damit rechnen, mit der so genannten Auschwitzlüge konfrontiert zu werden, also auf Menschen zu treffen, die den Holocaust leugnen. Wiesel ist denn auch bis heute immer wieder bevorzugte Zielscheibe einschlägiger Kritik.Auch mit anderen Themen, zu denen sich der Schriftsteller geäußert hat, machte er sich nicht nur Freunde. Etwa als er das Schicksal von Indianern in Nicaragua, der »Desaparecidos«, anprangerte oder nach den Menschen fragte, die während der Diktatur in Argentinien spurlos verschwanden. Er setzte sich auch für die Interessen kurdischer und kambodschanischer Flüchtlinge und der Opfer der Apartheid in Südafrika ein. Denn, so Wiesel, »manchmal muss man sich einfach einmischen: Wenn Menschenleben in Gefahr sind, die Würde des Menschen aufs Spiel gesetzt wird, dann sind Staatsgrenzen und nationale Empfindlichkeiten unwichtig. Wann immer Männer oder Frauen wegen ihrer Rasse, Religion oder politischen Meinung verfolgt werden, dann muss dieses Land für diesen Augenblick der Mittelpunkt des Universums sein.«Das mit dem Friedensnobelpreis verbundene Preisgeld verwendete Wiesel 1987 deshalb auch gemeinsam mit seiner Frau Marion zur Gründung der »Élie Foundation for Humanity«, einer gemeinnützigen Stiftung, die vor allem zwei Ziele verfolgt: Sie soll zum einen Diskussionsforen schaffen, in denen sich Wissenschaftler, Politiker, Künstler und junge Leute aus aller Welt treffen, um über alle politischen, kulturellen, religiösen und akademischen Grenzen hinweg Ideen auszutauschen. Zum andern fördert diese Stiftung humanitäre Projekte, bei denen zurzeit Hilfsaktionen für Juden aus Äthiopien im Mittelpunkt stehen. Die Stiftung veranstaltet darüber hinaus seit 1988 internationale Konferenzen und verleiht Auszeichnungen an Personen, die sich im Sinne der Stiftungsziele Verdienste erworben haben.P. Göbel
Universal-Lexikon. 2012.